Lesung vom 10. Mai 2017
Zusammenfassung
Leiden ist verpönt und scheinbar auch nicht nötig, denn allen geht es ja gut.
Warum sollten wir uns überhaupt mit dem Gedanken befassen, dass wir trauern müssen, wenn doch alles rund läuft? Gerne verdrängen wir den Gedanken, dass alles ein Ende hat, auch das Gute.
Also wozu trauern und leiden? Loslassen und leiden sind nötig, um zu reifen, um sich weiter entwickeln zu können. Dem kann ich nicht ausweichen.
An Verlusten wachsen wir.
Wir meinen zu Beginn oft, wir würden die Trauer nicht aushalten und den Weg der Tränen nicht gehen können.
Verluste sind ein nahezu universelles Phänomen im Lauf unseres Lebens. Wir verlieren Menschen nicht nur durch Tod, sondern auch, weil wir verlassen werden, uns verändern oder uns selbst weiterentwickeln. Zu unseren Verlusten gehört auch die bewusste oder unbewusste Absage an unsere romantischen Träume, die Aufgabe unrealisierbarer Hoffnungen oder der Verlust unserer Jugend.
Viele Verluste sind nicht so bewegend wie der Tod einer nahestehenden Person. Aber auch bei kleineren Ereignissen leisten wir Trauerarbeit. Auch kleine Schritte führen zum Ziel.
Oft ist das Ereignis, das uns trauern lässt, unvorhergesehen und kommt überraschend. Darum sollten wir uns vorbereiten. Vorbereiten durch Hinterfragen unserer althergebrachten Meinungen und Glaubenssätze, wie zB. „Ich werde dieser Belastung nicht gewachsen sein“, usw.
Trauer ist schmerzlich, auch wenn es eine Veränderung zum Besseren ist.
Dass die Gegenwart manchmal besser ist als die Vergangenheit, bedeutet aber nicht, dass mir die Trauerarbeit erspart bliebe.
Trauer ist Arbeit. Aber: „Der Gott, an den ich glaube, schlägt uns nicht mit Unglück, sondern schenkt uns die Kraft, damit fertig zu werden“. (Harold S. Kushner)
Ohne Schmerz kann niemand zu innerer Reife finden.
Trotzdem gibt es Menschen, die dem Schmerz der Trauer entgehen wollen, indem sie sich an nichts und niemanden binden. Heisst weniger lieben wirklich auch weniger leiden?
Wahre Freude oder Liebe ist unmöglich, solange ich zwanghaft versuche, dem Schmerz zu entgehen.
Umgekehrt glauben viele, nicht zu klammern bedeute, nicht mit ganzem Herzen dabei zu sein. Aber: Durch Klammern verliert das Festgehaltene seinen Reiz.
Wenn das, was dich so glücklich macht, morgen zu Ende geht, solltest du in der Lage sein, es loslassen zu können. Aber bis es so weit ist, solange es nicht zu Ende ist, versuche, ganz und gar da zu sein.
Wir vertrauen auf „Altbekanntes“ und halten gerne an unseren Vorstellungen fest. Oft heisst ‚leben‘ aber auch das loszulassen, was uns einmal gerettet hat.
Warum leiden wir überhaupt? Geht Loslassen nicht ohne Leiden?
Das Leiden, sagt Buddha, ist universell, aber es hat eine einzige Wurzel. Und diese Wurzel, so der Meister, ist das Verlangen.
Die Lösung lautet, keine unerfüllbaren Wünsche zu haben. Zu akzeptieren. Loszulassen. Dem mächtigen Drang zu entsagen, dass die Dinge anders zu sein hätten, als sie sind.
Was kommt nach dem Leiden? Wenn wir vom Weg der Tränen sprechen, sprechen wir davon zu lernen, wie wir uns Verlusten von einem anderen Standpunkt aus annähern können.
Es ist furchtbar, sich einzugestehen, dass jeder Verlust gleichzeitig einen Gewinn bedeutet. Und doch ist es so. Es gibt keinen Verlust, der nicht zwangsläufig einen Reifungsprozess nach sich zieht.
Der Schlüssel könnte sein, dass man lernt, seinen Wünschen zu folgen und sie dann wieder hinter sich zu lassen. Dafür ist es unbedingt nötig, die Fähigkeit zu entwickeln, Wünsche zu haben, ohne mich in ihnen zu verrennen, etwas zu wollen, ohne mich daran festzuklammern. Kurz gesagt: Man muss lernen loszulassen.
Veränderungen zu leben heisst zuzulassen, dass etwas endet, um Neuem Platz zu machen. Trauerarbeit bedeutet also zu lernen, Vergangenes loszulassen. Aber wenn ich mich vor dem fürchte, was kommt, klammere ich mich an das, was ist. Ich konzentriere mich auf das, was ich habe, weil ich nicht den Mut habe, das zu leben, was kommt.
Es liegt an mir den Abschied als Bereicherung zu verstehen.
Verluste sind notwendig, um reifen zu können. Und diese Reife wiederum hilft uns, unseren Weg zu gehen und am Ziel anzukommen.
Wenn ich darauf achte, dass die Tasse immer voll ist, kann ich auch nichts geben, denn Geben bedeutet, gelernt zu haben, die Tasse zu leeren. Es liegt auf der Hand, dass ich mich, um zu geben, zunächst mit dem Loslassen, dem Verzicht, auseinandersetzen muss.
Bedauerlicherweise muss ich sagen, dass die Liebe, was das Leiden angeht, tatsächlich ein Risiko darstellt. Ja, sie ist beinahe eine Garantie dafür. Aber das Leben ist dieses Risiko wert.
© Jorge Bucay. Die meisten Merksätze stammen aus seinem Buch der Trauer. Die übrigen Sätze habe ich seinen Gedanken nachempfunden und selbst formuliert. Paul Wettstein