Hanspeter

 

Freitagabend: Der Wein war im Kühler. Etwas zum Knabbern hatte er auch noch gefunden. Raoul hatte sich etwas gefangen. Hanspeter konnte kommen. Schon ertönte die Hausglocke. Pünktlich wie immer! Als Raoul die Türe öffnete, stand ein grosser, schlanker Mann, anfangs 60 vor der Türe, modern gestylt, die schwarzen Haare locker gewellt, das Kurzarmhemd leicht geöffnet und lässig über den Hosen tragend. Er sah blendend aus.    

Mit „Hallo Hanspeter, wie geht es dir?“, begrüsste Raoul seinen ersten Gast. „Bei dir kann man direkt sehen, wie du dich in den letzten Monaten verändert hast. Gut siehst du aus!“ Raoul musterte ihn vom Scheitel bis zu den modischen Schuhen. „Wie machst du das nur? Was tust du denn die ganze Zeit? Komm, nimm Platz! Wie geht‘s mit den Frauen?“, empfing ihn Raoul. 

„Lass mich doch bitte zuerst absitzen. Wir haben noch den ganzen Abend um zu plaudern. Du musst mich nicht so überfallen! Übrigens: Ich habe draussen…“ 

„Ja aber sag doch“, unterbricht Raoul, „wie geht es dir? Hast du den Schock der Trennung überwunden?“ 

„Das ist eine lange Geschichte. Wenn du möchtest, werde ich sie dir erzählen. Aber wie geht es bei euch?“ 

„Ich weiss es nicht! BETTINA HAT MICH letzte Woche wegen diesem Fred VERLASSEN! Du kennst ihn bestimmt. Dieser Gigolo, der jeweils mit seinem Sportwagen Frauen aufreisst und ihnen Rosen verteilt. Bettina ist genauso auf ihn herein gefallen wie alle anderen. Vermutlich wird sie in zwei Wochen wieder hier auf der Matte stehen.“ 

Hanspeter lachte schallend: „Was DER!“ Das Gesicht von Hanspeter verzog sich zu einer Grimasse, als er Fred nachäffte. „Fass es doch als Kompliment auf! Der macht sich nur an hübsche Frauen heran!“ 

“Ja vielen Dank! Das hat gerade noch gefehlt!“, zischte Raoul. „Jetzt muss ich bestimmt noch froh sein, dass Bettina weg ist!“

 

Der Partner soll’s richten

 

“Ja vielleicht schon! Du kannst es halten, wie du willst, Raoul. Vielleicht hat es auch etwas Gutes, wenn man zwischendurch mal verlassen wird. So bekommt man Gelegenheit zur Standortbestimmung und zur Neuorientierung. Inzwischen sehe ich genau darin meine Chance.“ 

„Danke! Danke vielmals! Auf diese Chance hätte ich gerne verzichtet!“, schnaubte Raoul wütend. „Bettina und ich waren glücklich und dies hätte so bleiben können, auch ohne Trennung und ohne diese doofe Chance zur Selbsteinkehr! Hätte ich diesem Fred nur rechtzeitig die Nase poliert, oder wenigstens die Türe gewiesen, so wären wir heute noch zusammen!“ 

Völlig unbeeindruckt von Raouls Einwänden fuhr HP fort: „Viele Menschen meinen unbewusst, sie hätten das Glück nicht verdient und seien deshalb auf Hilfe von aussen angewiesen. Solche Menschen erhoffen das Glück vom Partner. Deshalb wird der Partner richtiggehend verklärt und es werden ihm Fähigkeiten zugeschrieben, die er nicht haben kann, weil er nicht Gott ist.

Gleichzeitig versuchen sie den Partner mit allen Mitteln glücklich zu machen, um dann im Gegenzug von ihm das Glück einfordern zu können. Sie lesen ihm jeden Wunsch von den Lippen ab. Sie scheuen dazu keinen Aufwand."

„Ja klar! So ist es richtig!“, wirft Raoul ein, „Genau so muss es sein. Anders kann es ja nicht funktionieren. Stell dir mal vor, jeder würde nur für sich schauen in einer Partnerschaft!“ 

„Abwarten, auf diesen Aspekt komme ich noch. Das Für-sich-selber-schauen ist ein wichtiger Punkt. Aber viele dieser Menschen handeln eben nicht selbstlos, wenn sie dem Partner jeden Wunsch von den Augen ablesen, denn sie erwarten vom Partner, dass er sie dafür vollumfänglich glücklich macht. Schliesslich ist er ja ihr Partner! Und Partner sind ja wohl dazu da, einander glücklich zu machen!“ 

 „Ja genau! Das meine ich auch!“, fährt Raoul dazwischen. 

„Lass mich bitte ausreden!“ entgegnet HP etwas unwirsch. „Und was passiert, wenn der Partner das Glück nicht pünktlich liefert? Oder wenn der andere das Gefühl hat, das bisschen Glück, das er bekomme, sei nicht ausreichend? Dann hagelt es Vorwürfe oder der Partner wird ersetzt, weil das fehlende Glück doch einzig auf seinen mangelhaften Einsatz zurückzuführen ist!“

 

Ich bin nicht wichtig.

 

Raoul schüttelte den Kopf und hob protestierend die Hand, doch HP wollte diese Gedanken vertiefen und fuhr unbeirrt fort: 

„Das Dumme an der Geschichte ist nur, dass man dabei die eigenen Wünsche ausblendet und ihnen zu wenig Beachtung schenkt. Viele kümmern sich zu wenig um sich selbst und für ihr eigenes Glück. Meist ist angeblich der Zeitpunkt gerade ungünstig, oder man hat andere Pläne und Verpflichtungen. Man vertagt es auf später. Später will man dann schon auf die eigenen Bedürfnisse eingehen. Aber eben erst später, wenn alles andere erledigt ist und man gerade Zeit hat.“ 

Raoul wird nachdenklich. Meinte HP etwa ihn mit diesen Worten? 

„So vergehen unter Umständen wertvolle Jahre während denen man, meist zu Gunsten des Partners, seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt. Das eigene Innere wird unten gehalten, damit man dem Partner gerecht werden kann, in der Hoffnung, vom Partner als Gegenleistung das perfekte Glück zu erhalten und so für seine Mühen belohnt zu werden. Der Partner trägt die ganze Verantwortung für mein Glück, denn ich habe meinen Teil ja bereits getan.“ 

Nun kann Raoul sich nicht mehr zurückhalten und fällt HP ins Wort: „Willst du damit sagen, ich hätte einen Minderwertigkeitskomplex und hätte deshalb Bettina zu stark verwöhnt?“ 

HP entgegnet ihm nur kurz: „Das hast du gesagt!“ und fährt fort: „Es ist davon auszugehen, dass deshalb in den Partnerschaften viele Konflikte entstehen, denn es ist nicht möglich, sein Innerstes lange zu unterdrücken. Früher oder später verlangen meine Wünsche gehört zu werden, sonst werde ich unzufrieden mit der Partnerschaft und mit meinem Leben.“ 

Raoul tritt unruhig vom einen Bein aufs andere, sagt aber nichts. Er ist sichtlich mit sich selbst beschäftigt und schaut nach innen. 

„Das führt schliesslich zur grotesken Situation, dass beide die vermeintlichen Wünsche des anderen erfüllen wollen, ohne die eigenen und die des Partners überhaupt zu kennen. Und beide wundern sich dann, dass der andere dies nicht toll findet. Schliesslich fällt die Partnerschaft auseinander, weil der andere es einfach nicht gebracht hat!“ 

„So, jetzt mach aber einen Punkt“, versucht Raoul den Redefluss von HP zu unterbrechen. 

„Du wolltest doch meine Geschichte hören".

"Als mich Käthi verlassen hatte, fiel ich in eine tiefe Depression. Ich suchte schliesslich Dr. Kraska auf. Kennst du ihn? Das ist der mit den langen Haaren, sieht aus wie Albert Einstein“. 

„Ich kann dir sagen, er hat mich echt genervt mit seinen Moralpredigten. Erst nach einiger Zeit war ich in der Lage über seine Worte nachzudenken. Einige Sätze habe ich deshalb aufgeschrieben.“ 

Er kramte umständlich einen Zettel aus seiner Brieftasche, faltete ihn auseinander und las vor:  

Geliebt werden ist nichts! Lieben aber alles!

 

 

„So ein Quatsch!“, unterbrach ihn Raoul. „Geliebt werden ist nichts. Was soll das heissen? Geliebt werden ist doch alles! Oder etwa nicht?“ 

„Du hast ja recht“, entgegnete Hanspeter: „Ich habe nicht umsonst gesagt, ich sei depressiv gewesen. Andererseits war da was dran. Es ist bestimmt sehr schön geliebt zu werden und jedermann will geliebt werden. Jeder Mensch sucht sein Glück in der Liebe und meint, er sei nur dann glücklich, wenn er geliebt werde. Wenn eine Hand über seine Wangen streicht und ein Mund seinen Mund küsst. Das vermisste ich damals natürlich auch. Es tat so weh.“ 

Raoul nickte. Er konnte HP gut nachfühlen. Schliesslich war er seit letztem Samstag in derselben Situation. Auch er vermisste Bettina, seine Liebe. Auch er fühlte sich total mies. 

„Aber in dem Satz steckte viel mehr. Ich musste erkennen, dass die Rollen in der Liebe nicht einseitig verteilt sein

sollten. Nicht, dass der Eine nur liebt und gibt und der Andere nur geliebt wird und empfängt. Oder dass der Eine sich um das Innere kümmert und der Andere um das Äussere".  

Ein Gleichgewicht ist auch deshalb wichtig, weil der Liebende, sich sonst ausgenützt vorkommt“, sagte Raoul. „Just in dem Moment, wo Bettina an der Reihe gewesen wäre zu geben und zu lieben, genau in dem Moment ist sie abgehauen"!

„Da ist aber noch ein anderer Aspekt, bei dem wir vermutlich beide denselben Fehler begangen haben!“, sinniert HP nachdenklich. „Wir haben unser Leben für Äusserlichkeiten hingegeben, ohne uns um unser Inneres zu kümmern. Wir haben für Ruhm und Ansehen, für Geld und schöne Autos gelebt. Und was haben wir jetzt davon? Die Autos und alle anderen schönen Dinge sind geblieben, aber unsere geliebten Menschen sind weg!“

„Das trifft den Nagel auf den Kopf! Ich sehe, du hast dir vieles überlegt seit Käthis Abgang. Davon kann ich jetzt profitieren. Vielen Dank!“, pflichtete Raoul ihm bei. 

 

© 2.10.2017 Paul Wettstein, Luzernerstrasse 31, CH-6353 Weggis, +41 41 390 41 35, paulwettstein@bluewin.ch

 

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